Herbstfluten

Mystisches, Schmerz, Trauer, Depression, Angst, Abschied, Tod
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Anaximandala
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Registriert: Sonntag 27. Februar 2022, 16:08
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Herbstfluten

Ungelesener Beitrag von Anaximandala »

I
Es war die Zeit der Herbstfluten
Und mächtig wuchs der gelbe Fluss,
Genährt von seinen Wildbächen,
Dass man die Ufer suchen muss.

Da wurd der Flussgott hochgemut,
Dass er der Allergrößte wär,
Und fühlte sich ganz stark und gut.
Doch traf er bald schon auf das Meer.

Er blickte bis zum Horizont,
Ein Ende konnte er nicht finden,
Da sah vorm Gott des Nordmeers promt,
Er seine ganze Größe schwinden.

"Es stimmt wohl, was im Sprichwort steht:
Für unvergleichlich klug hält sich,
Wer hundert Wege kennt und geht
Und leider trifft das zu auf mich.

Wohl habe Leute ich getroffen,
Die kümmerten sich nicht um Größe,
Geglaubt hab ich, da bin ich offen,
Sie lügen, spinnen! welche Blöße.

Erst jetzt, bei Euch, erkenne ich,
Was Größe, Unerschöpflichkeit,
Zu Recht hätt jeder Meister mich,
Verlacht für meine Närrischkeit."

Der Gott des Nordmeers sprach darauf:
"Ein Brunnenfrosch erkennt kein Meer,
Denn schließlich ist sein Lebenslauf,
Beschränkt aufs Loch, und nicht auf mehr.

Kein Sommervogel kennt das Eis,
Es ist die Zeit, die ihn beschränkt,
So kommt es, dass er nichtmal weiß,
Was er nicht weiß, was er nie denkt.

Mit einem Fachmann spreche nicht,
Vom Sinn, ihn blendet nur sein Fach,
Doch nun besitzt du klare Sicht,
Bist sozusagen aufgewacht.

Erkennst all deine Ärmlichkeit,
Dass ich dir mehr erzählen kann:
Ein jeder Fluss hier, weit und breit,
Fließt in mich, doch ich steig nicht an.

Ich änder niemals mein Gesicht,
Was mit der Zeit auch so passiert,
Selbst Flut und Dürre kenn ich nicht,
Doch wer mich groß nennt, fantasiert.

Denn zwischen Himmel und der Erde,
Bin ich wie'n Steinchen auf nem Berg,
Fast schön, wenn ich gesehen werde,
Doch bleibe ich ein kleiner Zwerg.

Wenn man den einz'neln Mensch vergleicht
Mit all den Myriaden Wesen,
Ist es nicht so, dass er vielleicht,
Noch nie bedeutend ist gewesen?

Doch hält ein jeder sich für groß,
So wie du selbst bis eben dachtest,
Das größte Wasser wärst du bloß.
Dein Glück ist, dass du heut erwacht bist."





II
"Doch ginge es, man würde sagen,
Die Spitze eines Haars sei klein,
Und weil die ganze Welt sie tragen,
Muss Erd und Himmel riesig sein?"

"In Wirklichkeit der Welt der Dinge
Da gibt es kein begrenztes Maß,
Auch nichts, das dauerhaft fortginge,
Und nichts, das fortzugehn vergaß.

Die höchste Weisheit schaut deswegen
Auf Nah und Fern in gleicher Weise,
Sie sieht ganz einheitlich das Leben,
Beständig zieht sie ihre Kreise.

Sieht Kleines nicht mehr als gering,
Das Große nicht als wichtig an,
Belanglos sieht sie, was verging,
Lässt Ungeduld nicht an sich ran.

Erforscht des Lebens Wechselspiel
Dort zwischen Aufstieg und dem Fallen
Sich gleich zu bleiben ist ihr Ziel,
dass Freud und Leid in ihr verhallen.

Sie trauert nicht mehr um Verlust
Gewinnt, als täte sie es nicht,
Denn schließlich ist ihr ja bewusst,
Dass jeder Zustand mal zerbricht.

Nun gibt es kein begrenztes Maß,
Und niemals ruht der Lauf der Zeit,
Es wird geführt, wer das vergaß,
Im Kreis sich drehend durch sein Leid.

Die Zeit, die man auf Erden lebt,
Gleicht nicht der Zeit, die man's nicht tut,
Wie sehr man auch nach Wissen strebt
Es wächst allein der Fragen Flut.

Wer nun, trotz allem, so beschränkt,
Zu ordnen sucht, was ohne Maß,
Sich einzig an den Irrtum hängt,
Wie fest er auch im Sattel saß.

Denn niemals könnt man sicher sein,
Ob nun die Spitze von nem Haar,
Erscheint sie uns auch noch so klein,
Das Kleine festlegt, klar und wahr.

Und ob der Erde Größe dann
Am Ende wirklich groß genug,
dass man durch sie bestimmen kann
Was groß ist, ohne Lug und Trug."





III
Der Flussgott sprach ganz intressiert:
"Manch große Denker sagen ja:
Das Feinste seine Form verliert,
Das Größte ist uns unfassbar.

Doch liegt in dem, was sie uns sagen
Die Wahrheit über groß und klein,
Ja oder muss man tiefer graben,
Will man der Wahrheit näher sein?"

"Es kann fast gar nicht übersehen
Das Große, wer vom Kleinen schaut,
Auch sieht das Kleine kaum mehr stehen,
Wer seinen Blick aufs Große baut.

Nun lässt sich das, was ohne Form,
Verhältnismäßig nicht zerteilen,
Und muss, was unfassbar, enorm,
gar unerschöpflich hier verweilen.

Worüber man drum reden kann,
Das ist ganz schlicht das grobe Ding,
Das Feine ists, worüber man
Sich selber zur Besinnung bring.

Doch das, was schlechthin grob und fein
Entzieht sich unsrer Geisteskraft,
Drum handelt nach dem Sinn allein
Wer sich davon hat freigemacht.

Am Ende ist nur jener groß,
Der nicht auf seine Größe sieht,
Doch den versteht, des Geistes Los,
Aus Armut ihn zur Größe zieht.

Nicht alle Ehre dieser Welt
Ist ihn zu reizen mehr im Stande,
Dass er aus seiner Rolle fällt,
Auch weilt er drum in tiefster Schande.

Der Mensch des Sinns bleibt ungenannt,
er sucht im Leben nicht das Seine
Und hat sein eignes Selbst verbannt,
Ans Schicksal hängt er sich alleine."






IV
"Wo wird es denn nun abgewägt
Was Unwert ist, und was von Wert?
Ist Wert den Dingen beigelegt
So dass die Welt ihn nur erfährt?"

Der Gott des Nordmeers holte aus,
"Vom Sinn betrachtet gibts ihn nicht,
Den Wert, den Unwert, weil daraus
Stets nichts als nur der Standpunkt spricht.

Denn jedes Ding hält sich für wert,
Was es den andren noch abspricht.
Die Masse macht es umgekehrt,
Stets zählt in ihr die fremde Sicht.

Sieht man die Relativität
Und nennt ein Ding, weils größer ist,
Als andre, groß; es dahin geht,
Dass alles man als groß ermisst.

Bezeichnet man ein Ding als klein,
Nur weil was Größres existiert,
Dann müsste jedes Ding klein sein,
Weils gegen irgendwas verliert.

Drum sieh, dass Himmel und auch Erde
Am Ende nur ein Reiskorn sind
Und Haaresspitzen groß wie Berge,
Wenn man die Relation ersinnt.

Sehn wir vom Punkt der Qualität
und sagen dann, dass etwas sei,
Weil Qualität es in sich trägt,
Kein Ding der Welt wär nicht dabei.

Und sagt man, etwas sei nun nicht
da eine Qualität ihm fehlt,
Von allen Dingen würde schlicht,
Ein jedes mit hinzugezählt.

Es stehn sich Ost und West entgegen,
Zu jeder Zeit im Weltenlauf,
Nur dass sie niemals auf- sich heben,
Und Qualitäten gibts zuhauf.

Wenn von der Wertung aus gesehn
man all die Dinge wertvoll nennt
die selbst als solches sich verstehn
die Welt, sie wär von Wert geschwemmt.

Und spräche man ihn jedem ab,
Den irgendwer für wertlos hält,
Dann sage ich mal kurz und knapp,
Ganz wertlos wär die ganze Welt.

Das Urteil wirklich schön erklärt:
Ein Weiser sieht, wie ein Tyrann,
sich selbst alleine voller Wert
den andren als ganz wertlos an.

Auf gaben Yau und Schun den Thron
und sollten dafür heilig sein
Das selbe bracht' Dschi Guai den Lohn
er läutete sein Ende ein.

Zu Königswürde hat gebracht
der Kampf um Herrschaft Wu und Tang
der weiße Prinz zog in die Schlacht
und fand in ihr den Untergang

Es zeigt, dass Kampf sowie Verzicht,
Dass Wert und Unwert Zeiten hat,
Wer absolut es sieht, der bricht,
Stets gibt der Umstand uns das Blatt.

Ein Sturmbock, der die Stadt berennt,
Ganz sicher keine Bresche füllt
Auch wird, wer für den Schwertkampf brennt
Von Mäusejagd in Scham gehüllt.

Ein Kauz, der seine Flöhe fängt,
Und unterscheidet Haaresspitzen,
Am Tag zum Berge blickt und denkt
"Wer mag am Horizont dort sitzen?"

Wer zur Bejahung sich bekennt,
Doch nichts von der Verneinung weiß,
Im Leben stets auf Ordnung brennt,
Verwirrung nur als schlecht verheiß.

Hat die Gesetze nicht durchschaut,
Wie Himmel und wie Erde wirkt,
Gleich einem, der dem Licht vertraut,
Doch vor den Schatten sich verbirgt.

Es ist doch klar, dass das nicht geht,
Wer trotzdem weiter davon spricht,
Getäuscht im Schein der Dummheit steht,
so felsenfest wie ohne Sicht.

Ein Mensch, der von der Zeit abweicht,
Und der den Sitten widerstrebt,
Mit Sicherheit nicht viel erreicht,
Und dazu noch in Schande lebt.

Jedoch, wer seiner Zeit entspricht,
der wird dafür hoch angesehn,
Sei still, oh Flussgott, siehst du nicht,
Wir könnens einfach nicht verstehn."





V
Der Flussgott fragte nun verwirrt,
"Was kann man tun, was lieber nicht,
Wie schafft man, dass man sich nicht irrt,
Und man dem Weltenlauf entspricht?"

"Am Ende sind, vom Sinn gesehn,
der Wert und Unwert überflüssig,
Nur Meinungen, die kommen, gehn,
und oftmals sind sie nichtmal schlüssig.

Drum lass von diesem Gegensatz,
Bloß nie dein Herz gefangen nehmen,
Denn sonst verlierst du einen Schatz,
Für Ketten, die dein Denken lähmen.

Sei streng mit dir, so wie ein Mann,
Der Ansehn der Person nicht kennt,
Und unparteiisch handeln kann,
Dabei für alles Rechte brennt.

Sei wie der Himmel grenzenlos,
Der nichts Bestimmtes nur umfasst,
Trag jedes Ding in deinem Schoß,
Nur dass du keins am Liebsten hast.

Wer ohne Gunst und Neigung wägt
Der ist wahrhaftig unumschränkt,
Ein Geist, der keine Ketten trägt
Der wird von Schicksalswind gelenkt.

Das Dasein aller Dinge eilt
auf ewig, während es sich wandelt,
und wer im Fluss des Wandels weilt
Entfaltet Sinn, wo er auch handelt.




VI
"Was ist denn nun der Wert vom Sinn?",
Das wollt zum Schluss der Flussgott wissen,
"Er führt zum Gleichgewicht uns hin,
Er fügt zusammen, was zerrissen.

Dass man der Kräfte Gleichmaß schaut,
Kein Außending mehr Schaden bringt,
Man sich der Fügung anvertraut,
Und Handeln willenlos gelingt.

Dass man die Welt doch nicht verachtet,
Wenn man auch kaum noch sie berührt,
Denn ist ihr Einfluss erst entmachtet,
Man tief in sich den Frieden spürt.

Die Quelle von Gefahren sieht,
In Leid und Glück die Ruhe kennt,
Voll Sorgfalt schaut, wohin man zieht
Und wo man seinen Weg abtrennt.

Das Himmlische im innern Geist,
Ins Außen leg die Menschlichkeit,
Wenn beider Einfluss sich umkreist,
Erschöpfen sie das Möglich weit.

Wer diesen Zustand erst erreicht,
Bewegt sich, als sei er nicht da,
Sein Wesen bis zum Ursprung reicht,
Sich selbst erkennend, rein und klar.

Wer nicht mehr durch Beeinflussung
Die himmliche Natur zerstört,
Und nicht mit Absicht Änderung
Ersucht; den Weisen angehört.

Wer voller Sorgfalt sich bewahrt,
Im uferlosen Ozean
Des Geistes nicht verloren harrt,
Den wäscht er rein von allem Wahn."


*nach Zhuangzis Herbstfluten

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